Montag, 21. März 2016

Schmerz: Der kleine Unterschied zwischen den Geschlechtern


Männer und Frauen nehmen Schmerz unterschiedlich wahr. Und sollten unterschiedlich behandelt werden.


Frauen fühlen anders, wenn es um Schmerz geht

Männer und Frauen sind durchaus verschieden, wenn es um Schmerz geht. Fibromyalgie (Faser-Muskel-Schmerz) ist dafür ein gutes Beispiel: Die rheumatische Krankheit, auch als Weichteilrheumatismus bekannt, trifft Frauen vier- bis sechsmal häufiger als Männer. Generell kommen Schmerzen zwei- bis dreimal so häufig bei Frauen als bei Männern vor; beispielsweise Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, rheumatische Schmerzen oder Schmerzen des Bewegungsapparates. Doch die Gründe sind nicht einzig und allein anatomisch bedingt wie zum Beispiel Menstruationsschmerz, sondern auch hormoneller Natur. Die Geschlechtshormone haben nämlich nicht nur Einfluss auf die Fortpflanzung und die Geschlechtsmerkmale eines Menschen, sondern auch auf das zentrale Nervensystem und damit auf das Schmerzzentrum. Die Forschungen diesbezüglich sind noch in vollem Gange. Es ist deshalb noch zu früh, um zu sagen, welches Hormon genau für die stärkere Schmerzerfahrung bei Frauen verantwortlich ist. Doch laut Professor Serge Marchand, Neurophysiologe am medizinischen Zentrum der kanadischen Universität Sherbrooke und einer der internationalen Spezialisten, die an der Studie mitarbeiteten, soll es hauptsächlich mit dem Gleichgewicht zwischen Testosteron, Progesteron und Östrogen zu tun haben. »Aus Forschungen, die unser Team durchgeführt hat, ging hervor, dass Testosteron - sowohl bei Frauen als bei Männern - die Wirkung von Schmerz lindert.«

Erst kürzlich stellten amerikanische Wissenschaftler der Universität Florida fest, dass bei Patienten mit Knie-Arthrose, Frauen empfindlicher auf unterschiedliche Schmerzarten reagieren. Sie haben zum Beispiel eine niedrigere Schmerzgrenze bei Hitze, Kälte und Druck und insgesamt mehr Schmerzen als Männer mit derselben Erkrankung.



Frauen sind keine Jammerlappen

Frauen sind beileibe keine Jammerlappen, sondern Opfer ihrer Hormone. Im Gegensatz zu Testosteron - das bei hohen Werten eine Art Schmerzpuffer bildet - unterdrückt ein hoher Östrogen- und Progesteronspiegel die positive Wirkung bestimmter hemmender Mechanismen, die normalerweise das Schmerzempfinden im Körper blocken. Diese Mechanismen schützen vor einer Überreizung und sorgen dafür, dass Schmerz über den Körper verteilt abnimmt, wenn er an einer bestimmten Körperstelle besonders stark ist. »Das könnte erklären, warum Frauen während der Menstruation, aber auch kurz davor oder danach (perimenstruelle Phase), mehr Schmerz empfinden«, so Marchand, »denn der Östrogen- und Progesteronspiegel ist dann erhöht.« Eine andere aktuelle Entdeckung zeigt, dass die Geschlechtshormone einen Einfluss auf die Regionen in der Hirnrinde ausüben, die die Schmerzausschaltung (Analgesie) durch Ausschüttung von Endorphinen regeln. Der Endorphinspiegel sinkt im Laufe des Menstruationszyklus, wodurch die schmerzstillende Wirkung dieser Substanzen nachlässt. Das betrifft besonders die Follikelphase, also den ersten Teil des Menstruationszyklus, wenn der Progesteronspiegel am niedrigsten ist und der Östrogenspiegel das höchste Niveau erreicht.



Pille und Zyklus beeinflussen Schmerzen

Wenn Sie wegen Schmerzsymptomen zum Arzt gehen, sollten Sie ihm am besten mitteilen, ob die Schmerzen während der perimenstruellen Phase oder zu einem bestimmten Zeitpunkt während des Monatszyklus zugenommen haben und welche Wirkung eventuell die Einnahme hormoneller Verhütungsmittel auf die Schmerzempfindung hat. Ihre Angaben können dem Arzt bei der Wahl der richtigen Therapie helfen. »Er kann die hormonalen Schwankungen und die verwendete Antibabypille berücksichtigen und anhand der geschilderten Symptome die passenden Medikamente finden. So kann er zum Beispiel empfehlen, eine andere Pille zur Verhütung einzunehmen«, erklärt Marchand.



Schmerz hängt bei Frauen mit Angst zusammen

Hormonelle Faktoren sind nicht die einzige Ursache für Schmerzempfinden. Auch Angst spielt dabei mit. Aus neurophysiologischen Studien ging hervor, dass Frauen ein höheres basales Angstniveau - die sogenannte Basisangst - haben als Männer. Männer erfahren dafür mehr Stress in bestimmten Situationen. Diese Form wird »situative« Angst genannt. Unter dem Druck der kontinuierlichen Angst sollen Frauen empfindlicher für chronische Schmerzen sein. »Es ist deshalb wichtig«, so Professor Marchand, »dass Frauen ihren Arzt nicht nur über die physiologischen Folgen ihrer Schmerzen informieren, sondern auch mit ihm über eventuelle psychische Probleme reden.«



Männer und Frauen reagieren unterschiedlich auf Schmerzmittel

Die Untersuchungen nach der unterschiedlichen Wirkung von Schmerzmitteln bei Männern und Frauen ist in vollem Gange. So hat man festgestellt, dass bestimmte Morphine oder Opioide bei Männern und Frauen nicht auf dieselbe Weise wirken und deshalb andere Dosierungen nötig sind, um ein Schmerzmedikament zu produzieren. Frauen reagieren nämlich weitaus besser auf Opioide, die an den kappa-Rezeptoren wirken und erfahren eine dadurch eine größere Schmerzlinderung als Männer. Doch das wurde nie berücksichtigt und die heutigen Schmerzmittel wurden auf der Basis von Studien entwickelt, die fast ausschließlich männliche Teilnehmer hatten. »Man hat dieser unterschiedlichen Reaktion auf Schmerzmittel keine Aufmerksamkeit geschenkt und Frauen haben deshalb immer Dosierungen verordnet bekommen, die ausschließlich auf ihr Gewicht abgestimmt war«, bedauert Professor Marchand. »Auch wenn die Unterschiede im Schmerzempfinden gering sind, so macht es doch für Frauen, die an chronischen Schmerzen leiden, einen Unterschied.«



Schmerzmittel für Frauen sind oft Augenwischerei

Glücklicherweise beginnt man sich endlich der Unterschiede zwischen Männern und Frauen bewusstzuwerden auf dem Gebiet des Schmerzempfindens und der Schmerzbekämpfung. Doch aufgepasst: Bestimmte Schmerzmittel, die heutzutage speziell für Frauen verkauft werden, sind manchmal teurer, obwohl sie exakt denselben Wirkstoff enthalten als das Pendant für die Männer. Lassen Sie sich deshalb von Ihrem Apotheker genau informieren.



Quellen: Emily J. Bartley et al. Enhanced pain sensitivity among individuals with symptomatic knee osteoarthritis: Potential sex differences in central sensitization. Arthritis Care Res (Hoboken). 2015 Oct 5. doi: 10.1002/acr.22712



Katy Vincent, Catherine Warnaby, Charlotte J. Stagg, Jane Moore, Stephen Kennedy, Irene Tracey. Brain imaging reveals that engagement of descending inhibitory pain pathways in healthy women in a low endogenous estradiol state varies with testosterone. Pain. 2013 Apr;154(4):515-24, doi: 10.1016/j.pain.2012.11.016



Philippe Goffaux, Karine Michaud, Janou Gaudreau, Philippe Chalaye, Pierre Rainville, Serge Marchand. Sex differences in perceived pain are affected by an anxious brain. Pain. 2011 Sep;152(9):2065-73. doi: 10.1016/j.pain.2011.05.002


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