Die
Früherkennung von Krankheiten gilt in der heutigen Medizin als eine
der besten Entwicklungen überhaupt. Doch zwei norwegische Mediziner
haben Zweifel, dass Früherkennung immer das Optimum darstellt.
Die
sich ständig weiter entwickelnde medizinische Technik ermöglicht es
Medizinern, Krankheiten und deren Vorboten zu entdecken, die
vielleicht niemals ausbrechen. Doch, um sicher zu gehen, wollen die
meisten Menschen in jedem Fall behandelt werden. Und dass, obwohl
auch die Behandlungen selbst ernste Nebenwirkungen hervorrufen und
den Körper schädigen können.
„Es
muss besser über die Pro’s und Kontra’s informiert werden, die
die Früherkennung von Krankheiten und ihre Behandlung mit sich
bringt“, meinen die norwegischen Professoren Bjørn Hofmann und
John-Arne Skolbekken. Die beiden Professoren veröffentlichten
kürzlich einen Übersichtsartikel im medizinischen Journal „The
BMJ“,
der sich mit der Früherkennung von Krankheiten seit dem 19.
Jahrhundert bis heute beschäftigt. Ihre Ergebnisse sind
beunruhigend.
Unausgewogener
Anstieg
„Wir
haben eine steigende Aufmerksamkeit für die Früherkennung von
Erkrankungen entdeckt, sei es Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder
Geisteskrankheiten,“ teilt Hofmann mit. Er berichtet, dass in der
heutigen Zeiten 30-mal mehr Artikel über die Früherkennung von
Krankheiten veröffentlicht werden als in den 1950er Jahren, unter
der Berücksichtigung, dass die Anzahl an Veröffentlichungen
insgesamt gestiegen ist. „Das wachsende Interesse an diesem Thema
wäre schön, wenn der Fokus in der wissenschaftlichen Literatur
gleichmäßig auf Nutzen und Schaden verteilt wäre. Leider haben wir
festgestellt, dass viele Forschungsartikel sich nur mit den positiven
Aspekten beschäftigen. Doppelt so viele erwähnen die Vorteile einer
Früherkennung gegenüber den Nachteilen,“ fügt Hofmann hinzu. Für
jeden Artikel, der sowohl die Vor- als auch die Nachteile betrachtet,
gibt es 76 Artikel, die nur eine Seite beleuchten oder Vor- und
Nachteile werden überhaupt nicht besprochen. Die einseitige
Fokussierung auf die positiven Aspekte der Früherkennung kann zu der
Schlussfolgerung führen, dass Früherkennung immer gut ist. Das ist
problematisch.
Ressourcen
für Fehlalarme nutzen
Mit
dem verstärkten Fokus auf Biomarker zur Erkennung von Krankheiten,
gewinnen Themen wie Überdiagnose und Überbehandlung zunehmend an
Bedeutung. Mit einem einfachen Blut-, Urin- oder sogar Atemtest kann
man leicht prüfen, ob Erkrankungen vorliegen – sogar Tests für
Zuhause und Apps fürs Smartphone werden zu diesem Zweck entwickelt.
„Die Idee, dass Krankheiten frühzeitig erkannt werden sollten und
müssen, ist fast schon zu einer Bewegung geworden. Wir befürchten,
dass dieser Trend noch weiter an Fahrt gewinnt und - angesichts der
neuen Biomarker - Menschen unnötigerweise Sorgen bereitet. Es
bedeutet auch, dass wir unsere Ressourcen eher für falschen Alarm
verwenden, als uns auf die Behandlung derer zu konzentrieren, die es
wirklich nötig haben,“ sagt Hofmann.
Bessere
Gesundheit?
Professor
und Sozialtherapeut Steinar Westin unterstützt die Sichtweisen von
Hofmann und Skolbekken. „Sobald etwas markiert ist, werden viele
Menschen sich auf die Behandlung stürzen, nur um auf der sicheren
Seite zu sein. Wir müssen kritisch sein, wo wir die Grenze für das
ziehen, was wir Krankheit nennen,“ sagte Westin. Ein Beispiel für
die Notwendigkeit einer solchen Grenze ist die norwegische
Gesundheitsbehörde, die kürzlich beschlossen hat, dass alle
Schwangeren umfangreich mit einem Glukosetoleranztest auf
Schwangerschaftsdiabetes getestet werden sollen. Der Test auf
Schwangerschaftsdiabetes wurde bislang mit einem simplen Teststreifen
für den Urin durchgeführt. Westin merkt an, dass die neue Methode
viel mehr Frauen mit einem erhöhten Diabetesrisiko kennzeichnet –
einschließlich vieler Frauen, die vielleicht gar keinen
Schwangerschaftsdiabetes haben – und es wird Sache der Ärzte sein,
die Dinge im Nachhinein zu klären. „Führt diese Entscheidung zu
mehr Gesundheit für mehr Menschen? Wissen wir, ob die Einzelnen, die
wir registrieren, wirklich davon profitieren? Das sind Fragen, die
wir uns erstmal selbst beantworten müssen,“ sagt Westin. Er
glaubt, dass ein gesteigertes Bewusstsein für alle möglichen
Risikofaktoren und Indikationen dazu führt, dass Menschen nur noch
mit sich selbst beschäftigt sind und bei Patienten unnötig
Gesundheitsängste schürt.
Ein
notwendiger Preis
Es
besteht ein Unterschied zwischen Krankheiten und
Krankheitsschweregraden. Hofmann bezweifelt nicht, dass Früherkennung
und Behandlung bei bestimmten Gesundheitsproblemen entscheidend sind,
um eine Erkrankung zu vermeiden. Der Druck ist vor allem groß, wenn
es um Krebs geht.
Solveig
Hofvind, Kopf des Brustkrebs-Screening-Programms des norwegischen
Krebsregisters, glaubt, dass die von Hofmann und Skolbekken
aufgezeigten Probleme eine Herausforderung darstellen, weil wir nicht
genug darüber wissen, wie viele Patienten für Erkrankungen
behandelt werden, die sich wahrscheinlich nicht zu einer sehr
schweren Krebserkrankung entwickeln. „Wir entwickeln ständig neue
Diagnosemethoden für alle Arten von Krankheiten und das ist Teil der
Zukunft. Vielleicht behandeln wir einige Personen, die das nicht
brauchen, aber das könnte der Preis sein, den wir zahlen müssen, um
mehr Menschen vor ernsten Krankheiten und vor dem Tod zu retten,“
findet Hofvind.
Brustkrebsfrüherkennungsprogramme
senken die Sterblichkeit
Es
ist immer hart, die Diagnose Krebs zu bekommen, aber Hofvind zweifelt
nicht daran, dass es besser ist, einen kleinen Tumor in der Brust
unter lokaler Betäubung zu entfernen, als abzuwarten und zu schauen,
ob er größer wird und dann vielleicht umfangreichere und
anstrengendere Behandlungen erfordert.
Die
Einführung von Brustkrebs-Screening-Programmen und verbesserten
Behandlungsmethoden hat die Sterblichkeitsrate der Krankheit gesenkt.
Während früher Tumore erst bei einer Größe von durchschnittlich
2,5 Zentimetern entdeckt werden konnten, ist es heute möglich, sie
schon bei einer Größe von nur einem Zentimeter oder weniger
festzustellen. „Wir können nicht sagen, ob der Tumor einfach an
seinem Platz bleiben wird und wir wissen nicht genug über die
auslösenden Faktoren, die dazu führen, dass Tumoren zu wachsen
beginnen. Wir wissen nicht, wer und wie viele Menschen unnötig
behandelt werden. Aber wir wollen, dass Patienten in der Lage sind,
fundierte Entscheidungen zu treffen und wollen sie nicht über die
Folgen falsch informieren“, sagt Hofvind. Hofmann und Skolbekken
glauben, dass es für eine ethisch einwandfreie Patientenbehandlung
unerlässlich ist, die Vor- und Nachteile der Früherkennung besser
zu kommunizieren.
Unnötige
Last
Hofmann
betont, dass wir Patienten nicht nur ein rosiges Bild über die
Vorteile einer frühzeitigen Behandlung vermitteln dürfen, damit sie
in Zukunft fundierte Entscheidungen treffen können. Die Patienten
müssen auch die Wahrscheinlichkeit einer unnötigen Behandlung
kennen.
In
Fällen, in denen die Früherkennung zu einer Behandlung von
Krankheiten führt, die sich andernfalls zurückentwickeln oder
stagnieren würden, würde die Person mit der Erkrankung sterben und
nicht durch sie. Die Behandlung kann in einem solchen Fall zu einer
größeren Belastung werden als die Krankheit selbst.
„Als
Ethiker sorge ich mich um Ausgewogenheit und darum, dass die Menschen
wissen, worauf sie sich einlassen. Wie können wir sicherstellen,
dass die Früherkennung von Krankheiten tatsächlich zu einer
besseren Gesundheit führt? Viele Menschen akzeptieren Überdiagnosen
und Überbehandlungen, weil sie Angst vor der Krankheit haben. Das
ist in Ordung, aber dann müssen sie gut informiert sein – und wir
können nicht die sein, die ihnen Angst vor der Krankheit einjagen,“
sagt Hofmann.
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