Montag, 1. Januar 2018

Früherkennung von Krankheiten: Fluch oder Segen?


Die Früherkennung von Krankheiten gilt in der heutigen Medizin als eine der besten Entwicklungen überhaupt. Doch zwei norwegische Mediziner haben Zweifel, dass Früherkennung immer das Optimum darstellt.

Die sich ständig weiter entwickelnde medizinische Technik ermöglicht es Medizinern, Krankheiten und deren Vorboten zu entdecken, die vielleicht niemals ausbrechen. Doch, um sicher zu gehen, wollen die meisten Menschen in jedem Fall behandelt werden. Und dass, obwohl auch die Behandlungen selbst ernste Nebenwirkungen hervorrufen und den Körper schädigen können.
Es muss besser über die Pro’s und Kontra’s informiert werden, die die Früherkennung von Krankheiten und ihre Behandlung mit sich bringt“, meinen die norwegischen Professoren Bjørn Hofmann und John-Arne Skolbekken. Die beiden Professoren veröffentlichten kürzlich einen Übersichtsartikel im medizinischen Journal „The BMJ“, der sich mit der Früherkennung von Krankheiten seit dem 19. Jahrhundert bis heute beschäftigt. Ihre Ergebnisse sind beunruhigend.
Unausgewogener Anstieg
Wir haben eine steigende Aufmerksamkeit für die Früherkennung von Erkrankungen entdeckt, sei es Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Geisteskrankheiten,“ teilt Hofmann mit. Er berichtet, dass in der heutigen Zeiten 30-mal mehr Artikel über die Früherkennung von Krankheiten veröffentlicht werden als in den 1950er Jahren, unter der Berücksichtigung, dass die Anzahl an Veröffentlichungen insgesamt gestiegen ist. „Das wachsende Interesse an diesem Thema wäre schön, wenn der Fokus in der wissenschaftlichen Literatur gleichmäßig auf Nutzen und Schaden verteilt wäre. Leider haben wir festgestellt, dass viele Forschungsartikel sich nur mit den positiven Aspekten beschäftigen. Doppelt so viele erwähnen die Vorteile einer Früherkennung gegenüber den Nachteilen,“ fügt Hofmann hinzu. Für jeden Artikel, der sowohl die Vor- als auch die Nachteile betrachtet, gibt es 76 Artikel, die nur eine Seite beleuchten oder Vor- und Nachteile werden überhaupt nicht besprochen. Die einseitige Fokussierung auf die positiven Aspekte der Früherkennung kann zu der Schlussfolgerung führen, dass Früherkennung immer gut ist. Das ist problematisch.
Ressourcen für Fehlalarme nutzen
Mit dem verstärkten Fokus auf Biomarker zur Erkennung von Krankheiten, gewinnen Themen wie Überdiagnose und Überbehandlung zunehmend an Bedeutung. Mit einem einfachen Blut-, Urin- oder sogar Atemtest kann man leicht prüfen, ob Erkrankungen vorliegen – sogar Tests für Zuhause und Apps fürs Smartphone werden zu diesem Zweck entwickelt. „Die Idee, dass Krankheiten frühzeitig erkannt werden sollten und müssen, ist fast schon zu einer Bewegung geworden. Wir befürchten, dass dieser Trend noch weiter an Fahrt gewinnt und - angesichts der neuen Biomarker - Menschen unnötigerweise Sorgen bereitet. Es bedeutet auch, dass wir unsere Ressourcen eher für falschen Alarm verwenden, als uns auf die Behandlung derer zu konzentrieren, die es wirklich nötig haben,“ sagt Hofmann.
Bessere Gesundheit?
Professor und Sozialtherapeut Steinar Westin unterstützt die Sichtweisen von Hofmann und Skolbekken. „Sobald etwas markiert ist, werden viele Menschen sich auf die Behandlung stürzen, nur um auf der sicheren Seite zu sein. Wir müssen kritisch sein, wo wir die Grenze für das ziehen, was wir Krankheit nennen,“ sagte Westin. Ein Beispiel für die Notwendigkeit einer solchen Grenze ist die norwegische Gesundheitsbehörde, die kürzlich beschlossen hat, dass alle Schwangeren umfangreich mit einem Glukosetoleranztest auf Schwangerschaftsdiabetes getestet werden sollen. Der Test auf Schwangerschaftsdiabetes wurde bislang mit einem simplen Teststreifen für den Urin durchgeführt. Westin merkt an, dass die neue Methode viel mehr Frauen mit einem erhöhten Diabetesrisiko kennzeichnet – einschließlich vieler Frauen, die vielleicht gar keinen Schwangerschaftsdiabetes haben – und es wird Sache der Ärzte sein, die Dinge im Nachhinein zu klären. „Führt diese Entscheidung zu mehr Gesundheit für mehr Menschen? Wissen wir, ob die Einzelnen, die wir registrieren, wirklich davon profitieren? Das sind Fragen, die wir uns erstmal selbst beantworten müssen,“ sagt Westin. Er glaubt, dass ein gesteigertes Bewusstsein für alle möglichen Risikofaktoren und Indikationen dazu führt, dass Menschen nur noch mit sich selbst beschäftigt sind und bei Patienten unnötig Gesundheitsängste schürt.
Ein notwendiger Preis
Es besteht ein Unterschied zwischen Krankheiten und Krankheitsschweregraden. Hofmann bezweifelt nicht, dass Früherkennung und Behandlung bei bestimmten Gesundheitsproblemen entscheidend sind, um eine Erkrankung zu vermeiden. Der Druck ist vor allem groß, wenn es um Krebs geht.
Solveig Hofvind, Kopf des Brustkrebs-Screening-Programms des norwegischen Krebsregisters, glaubt, dass die von Hofmann und Skolbekken aufgezeigten Probleme eine Herausforderung darstellen, weil wir nicht genug darüber wissen, wie viele Patienten für Erkrankungen behandelt werden, die sich wahrscheinlich nicht zu einer sehr schweren Krebserkrankung entwickeln. „Wir entwickeln ständig neue Diagnosemethoden für alle Arten von Krankheiten und das ist Teil der Zukunft. Vielleicht behandeln wir einige Personen, die das nicht brauchen, aber das könnte der Preis sein, den wir zahlen müssen, um mehr Menschen vor ernsten Krankheiten und vor dem Tod zu retten,“ findet Hofvind.
Brustkrebsfrüherkennungsprogramme senken die Sterblichkeit
Es ist immer hart, die Diagnose Krebs zu bekommen, aber Hofvind zweifelt nicht daran, dass es besser ist, einen kleinen Tumor in der Brust unter lokaler Betäubung zu entfernen, als abzuwarten und zu schauen, ob er größer wird und dann vielleicht umfangreichere und anstrengendere Behandlungen erfordert.
Die Einführung von Brustkrebs-Screening-Programmen und verbesserten Behandlungsmethoden hat die Sterblichkeitsrate der Krankheit gesenkt. Während früher Tumore erst bei einer Größe von durchschnittlich 2,5 Zentimetern entdeckt werden konnten, ist es heute möglich, sie schon bei einer Größe von nur einem Zentimeter oder weniger festzustellen. „Wir können nicht sagen, ob der Tumor einfach an seinem Platz bleiben wird und wir wissen nicht genug über die auslösenden Faktoren, die dazu führen, dass Tumoren zu wachsen beginnen. Wir wissen nicht, wer und wie viele Menschen unnötig behandelt werden. Aber wir wollen, dass Patienten in der Lage sind, fundierte Entscheidungen zu treffen und wollen sie nicht über die Folgen falsch informieren“, sagt Hofvind. Hofmann und Skolbekken glauben, dass es für eine ethisch einwandfreie Patientenbehandlung unerlässlich ist, die Vor- und Nachteile der Früherkennung besser zu kommunizieren.
Unnötige Last
Hofmann betont, dass wir Patienten nicht nur ein rosiges Bild über die Vorteile einer frühzeitigen Behandlung vermitteln dürfen, damit sie in Zukunft fundierte Entscheidungen treffen können. Die Patienten müssen auch die Wahrscheinlichkeit einer unnötigen Behandlung kennen.
In Fällen, in denen die Früherkennung zu einer Behandlung von Krankheiten führt, die sich andernfalls zurückentwickeln oder stagnieren würden, würde die Person mit der Erkrankung sterben und nicht durch sie. Die Behandlung kann in einem solchen Fall zu einer größeren Belastung werden als die Krankheit selbst.

Als Ethiker sorge ich mich um Ausgewogenheit und darum, dass die Menschen wissen, worauf sie sich einlassen. Wie können wir sicherstellen, dass die Früherkennung von Krankheiten tatsächlich zu einer besseren Gesundheit führt? Viele Menschen akzeptieren Überdiagnosen und Überbehandlungen, weil sie Angst vor der Krankheit haben. Das ist in Ordung, aber dann müssen sie gut informiert sein – und wir können nicht die sein, die ihnen Angst vor der Krankheit einjagen,“ sagt Hofmann.

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