Nach Ansicht von Forschern ist es genau umgekehrt: Der Prozess der Gewichtszunahme macht uns hungrig und deshalb essen wir zu viel.
Die Zahlen lügen nicht. Betrachtet man den prozentualen Anteil der Übergewichtigen, so zeigt sich, dass mehr als die Hälfte aller Erwachsenen übergewichtig ist. Ein Viertel der Erwachsenen ist selbst stark übergewichtig und damit adipös. Jedes fünfte Kind in Deutschland bringt ebenfalls zu viel Gewicht auf die Waage. Das bedeutet ein höheres Risiko für Herzkrankheiten, Schlaganfälle, Typ-2-Diabetes und bestimmte Krebsarten. Wenn man abnehmen will, wird einem oft gesagt, man solle „weniger essen und sich mehr bewegen“. Aber in wie weit stimmt das eigentlich?
Energiebilanzmodell
Der Ansatz „weniger essen und mehr bewegen“ basiert auf dem uralten „Energiebilanzmodell“. Dieses Modell besagt, dass eine Gewichtszunahme dadurch verursacht wird, dass mehr Kalorien gegessen als verbrannt werden. Dass das häufig wirklich passiert, ist übrigens nicht so erstaunlich. Schließlich sind wir von schmackhaften, billigen und verarbeiteten Lebensmitteln umringt, die es uns leicht machen, mehr zu essen, als wir eigentlich an Energie benötigen. Dieses Ungleichgewicht wird durch unsere sitzende Lebensweise noch zusätzlich verstärkt. Das, in Kombination mit zu wenig körperlicher Bewegung, soll daher auch die treibende Kraft hinter der Adipositas-Epidemie sein.
Störung der Energiebilanz
Doch nun stellen Forscher die gesamte Effektivität des Energiebilanzmodells in Frage. Die meiste Zeit des letzten Jahrhunderts wurde Fettleibigkeit als eine Störung des Energiegleichgewichts betrachtet, die durch „zu viel essen“ im Verhältnis zum Stoffwechselbedarf verursacht wird. Auf Grundlage dieser Ansicht lautete die vorherrschende Empfehlung „weniger zu essen und mehr zu bewegen“, zum Beispiel durch eine kalorienarme Diät und ein gezieltes Bewegungsprogramm. Aber dieser Ansatz hat nicht funktioniert. Die Fettleibigkeit nimmt in der Bevölkerung weiter zu, obwohl der Schwerpunkt weiterhin auf der Energiebilanz liegt. Das bedeutet, dass das Energiebilanzmodell in der Praxis offensichtlich versagt hat. Die Zahl der durch Übergewicht und Adipositas bedingten Krankheiten nimmt stetig zu. Aber warum ist das so? In ihrer Studie argumentieren die Forscher, dass das Problem im grundlegenden Verständnis der Energiebilanz selbst liegt. Das liegt daran, dass dabei die jahrzehntelange Forschung über die Biologie des Gewichtsmanagements nicht berücksichtigt wird.
Was ist daran falsch?
Laut den Forschern hilft das Energiebilanzmodell nicht, die biologischen Ursachen der Gewichtszunahme zu verstehen. Während des Wachstumsschubs zum Beispiel, kann ein Jugendlicher Hunderte von Kalorien mehr essen als er verbrennt. Aber führt dieses „Zuviel“ dazu, dass er größer wird, oder macht ihn das schnelle Wachstum hungrig und er isst mehr? Eindeutig Letzteres. Die Forscher weisen auf die grundlegenden Mängel des Energiebilanzmodells hin. In ihrer Studie schlagen sie daher ein alternatives Modell vor, das ihrer Meinung nach Fettleibigkeit und Gewichtszunahme besser erklärt: das Kohlenhydrat-Insulin-Modell.
Das Kohlenhydrat-Insulin-Modell
Das Kohlenhydrat-Insulin-Modell stellt eine ziemlich gewagte Behauptung auf: Zu viel essen ist nicht die Hauptursache für Fettleibigkeit. Der Prozess der Gewichtszunahme und zu viel Fett speichern führen dazu, dass wir hungrig werden und zu viel essen, meinen die Forscher. Mit anderen Worten: Sie haben Ursache und Wirkung umgedreht.
So funktioniert es
Das Kohlenhydrat-Insulin-Modell gibt der modernen Ernährung einen Großteil der Schuld an der heutigen Adipositas-Epidemie. Sie zeichnet sich durch den übermäßigen Verzehr von Lebensmitteln mit einem hohen glykämischen Index (der angibt, wie schnell Kohlenhydrate ins Blut aufgenommen werden) aus: insbesondere verarbeitete, schnell verdauliche Kohlenhydrate. Diese Lebensmittel rufen hormonelle Reaktionen hervor, die unseren Stoffwechsel maßgeblich verändern. Infolgedessen werden die Fettspeicherung, die Gewichtszunahme und die Fettleibigkeit gefördert. Wie das genau funktioniert? Wenn wir stark verarbeitete Kohlenhydrate essen, erhalten die Fettzellen das Signal, mehr Kalorien zu speichern. Dadurch stehen weniger Kalorien für die Muskeln und andere stoffwechselaktive Gewebe zur Verfügung. Das Gehirn denkt, dass der Körper nicht genügend Energie erhält, was wiederum zu Hungergefühl führt. Außerdem kann der Stoffwechsel träger werden, weil der Körper verzweifelt versucht, Brennstoff einzusparen. Kurz gesagt, wir bleiben hungrig, obwohl wir überschüssiges Fett aufnehmen.
Adipositas-Epidemie
Um die Adipositas-Epidemie zu verstehen, müssen wir daher nicht nur berücksichtigen, wie viel wir essen, sondern auch, wie die von uns gewählten Lebensmittel unsere Hormone und unseren Stoffwechsel beeinflussen. Eine Mahlzeit kann kalorienarm sein, aber wenn wir dadurch schnell wieder Hunger bekommen und keine Energie mehr haben, was ist dann der Vorteil? Und mit der Behauptung, dass alle Kalorien für den Körper gleich sind, lässt das Energiebilanzmodell ein entscheidendes Puzzleteil aus.
Drastische Auswirkungen
Wenn man das Kohlenhydrat-Insulin-Modell über das Energiebilanzmodell stellt, hat das jedoch drastische Auswirkungen auf die Gewichtskontrolle und die Behandlung von Adipositas. Nach Ansicht der Forscher ist dieses Modell der Weg zu wirksameren und langfristigen Strategien für ein gesundes Gewicht. Anstatt die Menschen zu ermutigen, weniger zu essen - eine Strategie, die in der Regel langfristig nicht funktioniert - schlägt das Kohlenhydrat-Insulin-Modell einen anderen Weg vor, der sich mehr auf das konzentriert, was wir essen. Das ist auf lange Sicht wahrscheinlich viel effektiver. Infolgedessen können Leute mit weniger Hunger und Mühe abnehmen.
Gewicht ist auch Veranlagung
Ob wir jemals in einer Welt ohne Adipositas leben werden, ist jedoch fraglich. Fettleibigkeit gibt es seit vielen Jahrhunderten. Es gibt sogar archäologische Beweise dafür. Es ist klar, dass das Körpergewicht von Mensch zu Mensch variiert und teilweise durch die Gene bestimmt wird. Die heutigen extrem hohen Adipositasraten, insbesondere bei Kindern, scheinen jedoch beispiellos zu sein. Um eine Lawine von Komplikationen infolge von Fettleibigkeit - wie zum Beispiel Diabetes - zu verhindern, brauchen wir eine wirksame Behandlung. Das bedeutet, dass wir mit den richtigen Werkzeugen die eingangs erwähnten Prozentsätze deutlich reduzieren können. Solange wir nur die Hauptursachen der Fettleibigkeit verstehen und wissen, was wir dagegen tun können.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.