Warum versagen wichtig ist und wir mehr Mut zum Scheitern brauchen.
Besser leben, obwohl man jeden Tag Angst hat zu versagen: Wie macht man das? Und wie geht man am besten mit dem ständig wachsenden Leistungsdruck um, oder noch besser, wie wird man den Druck los? Versagensängste begleiten uns Tag für Tag, aber Psychologen haben wirksame Hilfestellungen, die den Druck wegnehmen: Legen Sie einen Tag pro Woche fest, an dem alles schiefgehen darf.
Der schöne Schein der sozialen Medien
Auf Facebook stößt man auf unzählige spektakuläre Urlaubsfotos. Auf Instagram zeigt jeder seine angesagtesten Back-to-School- oder #backtoworkout-Outfits. Und währenddessen fragen Sie sich selbst, wie Sie auf LinkedIn am besten vertuschen können, dass Sie zu Hause sitzen, weil Ihnen alles zu viel wird.
In einer Zeit, wo das ständige Präsentieren von „Erfolgen“ genauso lebenswichtig zu sein scheint wie Atmen, ist die Angst, Misserfolgen ins Auge zu sehen oder sie zuzugeben, größer denn je. Die Folge: Immer mehr Menschen verspüren Versagensängste und erliegen dem Druck, das perfekte Dies und das perfekte Das zu sein. Und versagen schmerzt umso mehr, weil in der glamourösen Scheinwelt der sozialen Medien jedem scheinbar immer und überall alles zu gelingen scheint.
Diesen verhängnisvollen Kreislauf müssen wir dringend durchbrechen, sagen Psychologen. Denn Scheitern ist unvermeidlich. Krampfhaft zu versuchen es zu vermeiden, macht ausgelaugt und todunglücklich. Jeder ist in seinem Leben schon mal an irgendetwas gescheitert, von der abgebrochenen Schullaufbahn über den Missgriff bei der Berufswahl bis hin zum abgebrochenen Studium. Psychologen plädieren für mehr Raum, um Fehler machen zu dürfen.
Was ist Versagensmut?
Das ist das Gegenteil von Angst vor dem Versagen. Den Mut zu haben, einmal etwas zu riskieren, auch wenn es schief gehen könnte. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard sagte einmal: „Sich trauen, bedeutet das Gleichgewicht zu verlieren, sich nicht zu trauen, bedeutet, sich selbst zu verlieren.“ Das ist mehr als wahr. Angenommen, Sie sind in jemand verliebt oder wollen unbedingt eine bestimmte Reise machen, aber aus Angst davor, dass etwas schief gehen könnte, unternehmen Sie nichts. Auf diese Weise werden Sie nie erfahren, was daraus geworden wäre. „Versagensmut“ gibt Ihrem Leben eine spielerische Note und neuen Schwung.
Wie wird man „versagensmutiger“?
Psychologen raten dazu, einen Tag pro Woche nicht der Leistung zu widmen, sondern dem Ausprobieren, das auch scheitern darf. Es muss nicht unbedingt spektakulär sein. Geben Sie sich selbst spielerisch den Raum, um etwas zu sagen oder zu tun, wovor sie eigentlich Angst haben. Plaudern Sie doch mal mit dem Nachbarn, den Sie eigentlich nur vom Vorbeilaufen kennen. Wer weiß, es wird vielleicht eine Katastrophe, aber vielleicht wird es auch ein supernettes Gespräch.
Überschreiten Sie mal eine Grenze. Das ist ein wichtiges philosophisches Thema, denn wir werden mit Ratschlägen bombardiert, dass wir unsere Grenzen auf allen Gebieten angeben sollen: bei der Arbeit, in Beziehungen, im Bett. Das stimmt natürlich auch. Aber man lebt nicht und man lernt nicht zu leben, indem man immer ängstlich nach Perfektion strebt und jedes Risiko des Scheiterns vermeidet.
Warum brauchen wir mehr denn je Versagensmut?
Weil wir so viel Versagensangst haben. Jetzt, wo viele Menschen ohne Religion leben, lebt der Mythos sehr stark auf, dass wir unser Schicksal völlig selbst in der Hand haben. Der Druck auf den Einzelnen, erfolgreich zu sein, ist sehr viel größer geworden. Das Aufkommen der sozialen Medien packt da noch zusätzlich eine Schippe drauf. Man muss sich zeigen, man muss ständig posten. Es dreht sich alles darum, perfekte Fotos und Höchstleistungen zu präsentieren. Das lässt Angst und eine grundlegende Verunsicherung entstehen. Bin ich nett genug? Bin ich hübsch genug? Habe ich wohl genug zu bieten? Die Suche ist endlos, denn so wie immer wieder ein neues iPhone auf den Markt kommt, sollen wir uns immer wieder neu erfinden.
Also weg mit den sozialen Medien?
Sie völlig zu verbannen ist schwierig. Selbst Menschen, die eine Pause einlegen, kehren doch immer zurück. Wir arbeiten schließlich immer mehr mit Technologie. Kinder von elf Jahren bekommen schon ein Smartphone, weil sie auf die weiterführende Schule wechseln und es dort für schulische Aktivitäten brauchen. Auch wenn die Kinder einigermaßen medienkompetent erzogen wurden, greifen sie von diesem Zeitpunkt an ständig nach dem Smartphone. Die Anziehungskraft ist enorm.
Man muss einen Weg finden, denn man kann sich den sozialen Medien nicht entziehen. Es gibt zwar allerlei Ratschläge für digitale Diäten wie zum Beispiel das Ausschalten von Apps während der Arbeit oder beim Schlafen. Oder sie während des Urlaubs vom Smartphone sogar zu deinstallieren. Vieles davon ist nützlich, aber funktioniert nicht für jeden gleich gut. Experten empfehlen, darauf zu achten, wenn man nur noch die ganze Zeit oberflächliche Inhalte konsumiert. Das kann einen zermürben und den Kontakt zu seinen Gefühlen, seinem Körper und seiner Umgebung verlieren lassen.
Wie lässt sich das vermeiden?
Indem man zu seinem Körper zurückkehrt und echten Kontakt mit anderen Menschen hat. Es ist kein Zufall, dass Yoga und Meditation im Aufwind sind. Das ist auch für Kinder empfehlenswert und kann ein starkes Fundament bilden, auf das sie zurückgreifen können.
Können wir Kinder vor zu viel Leistungsdruck schützen?
Das ist schwierig. Von klein auf gibt es jede Menge Tests und Zielvorgaben, viel mehr als in früheren Zeiten. Es gibt zwar alternative Schulen, die die Kinder völlig frei lassen. Aber das ist wieder das andere Extrem. Kinder sollen schließlich auch Disziplin und Arbeitseifer lernen. Aber Kinder müssen auch das Scheitern lernen, selbst wenn man das lieber verhindern möchte. Es gehört zum Erwachsenwerden dazu.
Auch Erziehung unterliegt dem Leistungsdruck
Grund dafür ist der Übergang von einer sehr autoritären Erziehung in den fünfziger und sechziger Jahren zu einer sehr freien Erziehung in den siebziger Jahren. Aktuell suchen wir wieder nach mehr Autorität. Konkret bedeutet dies, dass man ständig abwägt. Bin ich streng genug? Bin ich zu streng? Aber diese Sorge ist positiv, denn beides ist wertvoll. Man muss nur für jede Situation herausfinden, was am besten geeignet ist. Es ist schwierig, diese Überlegungen immer wieder anzustellen, aber es ist sinnvoll.
Erfolg und Misserfolg hängen auch vom Zufall ab
Ist es wichtig, zu sehen, dass sowohl Erfolg als auch Misserfolg mit dem Zufall zu tun haben und manchmal weniger an uns selbst liegen, als wir denken? Ja und nein, denn man will ja, dass Menschen weiterhin die Verantwortung für eine bestimmte Art von Versagen übernehmen, bei dem sie zum Beispiel bewusst eine Machtposition missbraucht haben. Eine der wichtigsten Lehren in der östlichen Philosophie besagt, dass man versuchen sollte, sich weder mit seinem Erfolg noch mit seinem Scheitern völlig zu identifizieren. Das wappnet gegen Versagensängste und Leistungsdruck, ist aber schwierig umzusetzen. Die Neigung, mit dem schönen Image, das man in den sozialen Medien veröffentlicht, übereinzustimmen, ist groß. Umgekehrt ärgern wir uns über eine einzige abfällige Bemerkung, wobei wir die zehn Komplimente schon vergessen haben.
Was kann man aus dem Versagen für Lehren ziehen?
Es gibt eine zweite, ebenfalls schwierige Lehre, aus der östlichen Philosophie: Lernen, das anzunehmen, was ist. Das bedeutet, dass man seinen Schmerz, sein Versagen nicht versteckt oder verheimlicht, sondern sich damit auseinandersetzt, es untersucht.
Versagen ist nicht Misserfolg oder Fehlschlag. Es tut wirklich weh und man möchte es lieber nicht mit anderen teilen. Das Interessante daran ist jedoch, dass dabei immer eine Norm zum Vorschein kommt. Man versagt vor etwas oder jemandem. In der Politik sind Tugend und Ethik und auch Charisma Kriterien für Erfolg oder Misserfolg. Im Sport versagt man, wenn man nicht gewinnt. Gegenüber sich selbst, versagt man, wenn man nicht nach seinem Selbstbild handelt. Dann ist es lehrreich, herauszufinden, wie hoch die Messlatte ist, die man für sich selbst setzt, und woher die Erwartungen kommen, die man an sich selbst stellt. So zeigen Untersuchungen, dass Frauen eher dazu neigen, sich selbst die Schuld für Misserfolge zu geben, während Männer eher dazu neigen, die Schuld außerhalb zu suchen. Letzteres ist viel gesünder für die Psyche.
Fünf Tipps, um „versagensmutiger“ zu werden
1. Stellen Sie Ihren eigenen Versagens-Lebenslauf auf
Die Idee stammt von Johannes Haushofer, ehemals Professor für Psychologie an der Universität Princeton. Er findet es entscheidend, dass wir einsehen, dass sogar Topleute allerlei Misserfolge erlebt haben. „Nur die Erfolge sind sichtbar, aber das meiste, das ich probiere, geht schief“, schreibt Haushofer. Das wurde zum Renner. Indem man das zu Papier bringt und sich die Geschichte selbst erzählt, lernt man, dass Versagen nicht unbedingt katastrophal ist. Man entdeckt auch, warum man etwas als gescheitert ansieht.
2. Nehmen Sie Unsicherheit in Kauf
Letzten Endes sollten wir vielleicht einfach aufhören, in Begriffen wie Misserfolg und Erfolg zu denken. Man muss nicht zu allem eine Meinung haben oder alles in eine Schublade stecken. Nehmen Sie Unsicherheit in Kauf. Verletzlichkeit gehört zum Leben. Die Corona-Krise hat uns gezwungen, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Wir sind alle unsicher, und wir alle machen Fehler. So wie der Psychologe Adam Philips sagt: „Was wir hoffentlich aus unseren Fehlern lernen werden, ist, dass wir weiterhin Fehler machen werden.“
3. Legen Sie einen „Misserfolgtag“ pro Woche ein
In Zeiten, in denen man Angst vor dem Versagen hat, ist es gut, sich einen Tag pro Woche zu gönnen, an dem alles schief gehen darf. Geben Sie sich den Freiraum, etwas auszuprobieren, das nicht unbedingt gelingen muss. Das haben wir völlig verlernt.
4. Trösten Sie sich selbst
Es gibt leider kein Patentrezept für das Erlernen von Misserfolgen, weil jeder unterschiedliche Maßstäbe anlegt. Der eine hält einen Versprecher bei einem Fernsehauftritt für ein Versagen, der andere nicht. Aber es ist immer gut, wenn jemand sagt: „So schlimm ist es gar nicht“. Freundlich sein, wenn andere scheitern, und ihnen zu helfen, es zu relativieren, ist etwas, das man auch für sich selbst tun kann.
5. Hören Sie auf Ihren Körper
Versagensangst und Leistungsdruck gehen Hand in Hand. Wenn Sie das über einen längeren Zeitraum zu weit treiben, ist das Risiko hoch, dass Sie sich von Ihrem Körper und Ihren Gefühlen entfremden. Und auf lange Sicht wird Ihr Körper beginnen, sich dagegen zu wehren. Indem Sie sich mehr mit Ihrem Körper beschäftigen, zum Beispiel durch Sport, und von Zeit zu Zeit checken, wie es Ihnen körperlich geht, vermeiden Sie, dass Sie von Leistungsdruck, Versagensängsten und sozialen Medien völlig ausgesaugt werden.
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