Montag, 15. Mai 2023

Selfies: Alles nur Eitelkeit?



Sind all diese Selfies, die täglich gemacht werden, reine Eitelkeit? Im Gegenteil, sie dienen einem wichtigen persönlichen Zweck.

 

Das herrliche Dessert im Restaurant, ein Ausflug zum Strand oder ein Drink mit Freunden - wir fotografieren wirklich alles, aber natürlich nicht immer auf dieselbe Weise. Manchmal wollen wir das Dessert perfekt fotografiert haben, ein anderes Mal machen wir lieber ein Selfie. Das hängt vom Zweck des Fotos ab, haben Forscher herausgefunden.

Unterschiedliche Ziele

Wenn wir ein Foto von einem Ereignis aus unserer eigenen Perspektive machen, wollen wir vor allem die physische Erfahrung festhalten, aber wenn wir ein Foto wählen, bei dem wir uns selbst im Bild festhalten, wie bei einem Selfie, wollen wir uns an die tiefere Bedeutung einer Erfahrung erinnern. „Wir haben nicht nur herausgefunden, dass die meisten Menschen in verschiedenen Situationen beide Arte von Fotos machen, sondern wir wissen jetzt auch, dass die Menschen in jeder Situation unterschiedliche Ziele verfolgen: Das eine Mal wollen sie die Erfahrung an sich festhalten, ein anderes Mal die größere Bedeutung des Moments in ihrem Leben“, sagt der Studienleiter Zachary Niese von der Universität Tübingen.

Fotos auf Instagram

Dabei spielt es keine Rolle, ob die Menschen ein Foto teilen oder für den privaten Gebrauch aufnehmen wollen. „In einer früheren Studie, für die wir Instagram-Fotos untersuchten - die Menschen also teilen - fanden wir etwa gleichviele Fotos aus der ersten Person wie aus der dritten Person, und die meisten Teilnehmer gaben an, beide Arten von Fotos gepostet zu haben“, erklärt Niese. „Selbst in einer Situation, in der Leute ihre Fotos mit anderen teilten, verwendeten sie also zwei verschiedene Perspektiven. Die Menschen nahmen beide Arten von Fotos auf eine Art und Weise auf, die dem Zweck entsprach, den sie verfolgten.“

Erinnerungen schaffen

Wenn Menschen die tiefere Bedeutung oder den Sinn eines Ereignisses festhalten wollen, machen sie ein Foto aus der dritten Person, das heißt, sie sind selbst dabei. Wenn sie auf diese Fotos zurückblicken, erinnern sie sich auch eher an die Bedeutung, als wenn sie auf Fotos aus der ersten Person zurückblicken, so das Ergebnis von sechs Studien mit insgesamt 2.100 Teilnehmern. Außerdem gefielen ihnen ihre Fotos besser, wenn die Perspektive dem Zweck des Fotos entsprach.

Das fanden die Forschenden überraschend. „Es war sehr interessant, zu entdecken, dass Menschen jeden Tag aufs Neue intuitiv entscheiden, welche Perspektive besser zum Zweck des Fotos passt, das Festlegen der physischen Erfahrung oder die größere Bedeutung des Momentes für ihr Leben. Und neigten dazu, die Perspektive zu wählen, die mit unserer Empfehlung aus der Studie übereinstimmte. Aber was mich noch am meisten überraschte ist, dass das auch damit zusammenhing, wie gut die Menschen das Foto nachher fanden. Wenn Menschen ein Foto machten aus einer Perspektive, die besser zu ihrem Zweck passte, fanden sie das Foto schöner.“

Ein Selbstbild formen

All diese Fotos machen wir natürlich aus einem bestimmten Grund. „Das Aufnehmen und Teilen von Fotos gehört für viele Menschen zum Alltag. Auch wenn die vielen Fotos in unserer Kultur manchmal belächelt werden, helfen persönliche Fotos dabei, sich mit vergangenen Ereignissen verbunden zu fühlen und so die eigene Lebensgeschichte aufzubauen“, erklärt Niese.

Er betont, dass die eine Perspektive nicht besser ist als die andere. Stattdessen beweist die Studie, dass die effektivste Perspektive von dem Zweck abhängt, den jemand in diesem Moment mit dem Foto verfolgt: Natürlich muss das nicht immer eine tiefere Bedeutung haben. Der Forscher hält es für gut, wenn sich die Leute mehr mit dem Zweck eines Fotos befassen. Auf diese Weise können sie öfter die richtige Perspektive wählen und die Fotos später mit mehr Freude und Zufriedenheit betrachten. „Fotos können einem grundlegenden menschlichen Motiv dienen, unser Selbstbild zu entwickeln und zu verstehen, sowohl wenn es um die Erfahrungen in unserem Leben geht als auch im Hinblick auf ihre größere Bedeutung“, meint Niese.

Eine Erzählung des Lebens

„Persönliche Fotos bieten die Möglichkeit, Momente unseres Lebens festzuhalten, auf die wir später zurückblicken und über die wir nachdenken können“, erklärt der Wissenschaftler. „Das Selbst hat nach Ansicht der Sozialpsychologen zwei Seiten. Zum einen besteht es aus der Art und Weise, wie eine Person das Leben selbst erlebt. Das heißt, jeder Mensch fühlt sich als derjenige, der im gegenwärtigen Moment etwas sieht, schmeckt, fühlt, hört oder erlebt. Andererseits denken Menschen darüber nach, wie sie als Person für andere sind. Sie kreieren eine Erzählung über ihr Leben und die Dinge, die sie erlebt haben. Unsere Arbeit zeigt, dass verschiedene Arten von Fotos die Art und Weise beeinflussen, wie Menschen über die Erfahrungen in ihrem Leben denken, was möglicherweise Einblicke in dieses zweigeteilte Bild bietet. Genauer gesagt, geben Fotos aus Sicht der ersten Person ein besseres Bild davon, wie die Person selbst den Moment erlebt hat, während Fotos aus Sicht der dritten Person zeigen, was dieser Moment über denjenigen als Person und über seine Lebensgeschichte aussagt.“

Zu allen Zeiten

Diese beiden Perspektiven der Fotografie gibt es schon seit sehr langer Zeit. Es spielt keine Rolle, dass die Menschen heute zum Beispiel viel mehr Fotos machen als zu Zeiten der analogen Kameras. „Das Fotografieren des eigenen Lebens ist etwas, das Menschen in allen Kulturen tun“, erklärt der Forscher. „Auch die unterschiedlichen Perspektiven - erste und dritte Person - finden sich in vielen Kulturen wieder. In der Tat scheint es, dass die Menschen schon so lange, wie es Kameras gibt, beide Arten von Fotos gemacht haben. Es gibt Beispiele für Fotos aus Sicht der ersten Person über Natur oder Städte aus dem Jahr 1800, aber auch viele Fotos aus der dritten Person, etwa Porträts. Es scheint also nicht so zu sein, dass das Bedürfnis, manchmal den Moment so einzufangen, wie wir ihn mit unseren eigenen Augen sehen, und manchmal uns selbst zu fotografieren, ein einzigartiges Phänomen in der westlichen Kultur zu diesem Zeitpunkt der Geschichte war.“

Gleiche Intuition

Es ist jedoch noch nicht klar, ob Menschen in anderen Zeiten und Kulturen mit diesen beiden Arten von Fotos das gleiche Ziel verfolgen. „Interessante Folgeuntersuchungen würden also zeigen, ob Menschen in anderen Kulturen intuitiv auch Ich-Fotos machen, um ihre eigene physische Erfahrung festzuhalten, währen sie Fotos aus der dritten Person machen, um die größere Bedeutung eines Ereignisses zu erfassen“, schließt Niese.

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