Manche Menschen können einfach nicht still sitzen. Wenn sie nicht gerade mit den Füßen wippen, trommeln sie mit den Fingern oder einem Kugelschreiber auf dem Tisch. Gleichzeitig gibt es Menschen, die sich durch diese Bewegungen enorm irritiert fühlen und dadurch abgelenkt werden. Woher kommt der Bewegungsdrang und warum ärgern wir uns darüber?
Stellen Sie sich vor, zwei Fremde sitzen nebeneinander auf einer Bank und warten auf den Zug. Person A beginnt sich zu bewegen, sein rechtes Bein wippt ständig auf und ab. Person B unterdrückt den Drang, seine Hand auf das wippende Knie zu legen, um die Bewegung zu stoppen, denn das wäre bei einem Fremden unpassend. Also steht er seufzend auf und geht einige Schritte weg.
Welches Verhalten entspricht Ihnen mehr: dem von Person A oder B? Oder tun Sie manchmal beides? Trösten Sie sich: Sie sind bestimmt nicht der Einzige. Woher kommt der Bewegungsdrang bei dem einen und die Irritation darüber bei dem anderen?
40 Prozent der Menschen erleben „Bewegungshass“
„Haben Sie manchmal starke negative Reaktionen, wenn Sie Menschen sehen, die wiederholende Bewegungen machen, wie zum Beispiel mit dem Bein wackeln, mit dem Fuß wippen, mit den Fingern trommeln oder Kaugummi kauen?“ Das haben Wissenschaftler der kanadischen University of British Colombia mehr als tausend Studenten gefragt. Fast 40 Prozent antworteten mit einem eindeutigen „Ja“.
In einer Folgestudie füllten Menschen aller Altersgruppen einen ausführlicheren Fragebogen zu ihren Reaktionen auf den Bewegungsdrang anderer aus. Etwa ein Drittel schien darauf empfindlich zu reagieren, wobei erhebliche Unterschiede festgestellt wurden: Manche reagierten völlig gleichgültig gegenüber Zappelphilippen, während andere wütend wurden und es viele Abstufungen dazwischen gab.
Misokinesie nennt man diesen Bewegungshass. Es ähnelt einem Phänomen, das noch nicht lange erforscht wird: Misophonie, dem Hass auf Geräusche anderer Menschen, wie etwa Schmatzen oder das Klopfen mit einem Stift. Dabei handelt es sich nicht um eine leichte Irritationen, sondern um Gefühle von Ekel, Wut oder Aggression. In der US-Studie litten einige der Befragten sowohl unter Misokinesie als auch unter Misophonie.
Geräusche und Bewegung
Die Überschneidung zwischen Misokinesie und Misophonie wird auch von Psychiatern des AMC Amsterdam beschrieben. In einer Studie mit 575 Personen wurde festgestellt, dass 68 Prozent der Betroffenen zusätzlich zur Misophonie auch an Misokinesie litten.
„Die Mehrheit gibt jedoch an, dass die Reaktion auf Bewegungen weniger stark ist als auf Geräusche“, sagt die Psychiaterin Nienke Vulink. „Misophonie kann wirklich Wut und Aggression auslösen, während ich noch nie mit jemandem gesprochen habe, der genauso extrem auf Bewegung reagiert hat.“
Reizbarkeit durch Kaugummikauen
Dass Geräusche eine heftigere Reaktion auslösen, ist nicht überraschend, sagt ihr Psychiatriekollege Damiaan Denys. „Geräusche sind viel eindringlicher, es ist schwer, sich davon abzuschotten. Bei Bewegung kann man wegschauen.“ Manchmal ist auch schwer zu sagen, wo die Misophonie aufhört und die Misokinesie beginnt. Denn bei Misophonie geht es nicht immer ausschließlich um Geräusche“, sagt Vulink.
“Es kann auch mit einem visuellen Reiz verbunden sein. Nehmen wir jemanden, der negativ reagiert, wenn er eine andere Person Kaugummi kauen sieht. Wird seine Reaktion dann durch die sich wiederholende Bewegung oder durch das Geräusch ausgelöst? Hier gibt es eine Grauzone.“
Gesunde Reizbarkeit oder ernsthafte Störung
Obwohl es für viele Menschen ein erkennbares Ärgernis ist, macht es das nicht gleich zu einem Problem. In der US-Studie füllten Probanden einen Online-Fragebogen aus: Man weiß dann nicht, ob sie ernste Symptome haben oder eine gesunde Reizbarkeit.
Denys erwartet eigentlich, dass nur wenige Menschen darunter so stark leiden, dass man es als Störung bezeichnen kann. Aber warum stört das Zappeln und Fingerklopfen anderer Menschen so sehr?
Keine Aufmerksamkeitsstörung
Eine der Theorien über Misophonie besagt, dass es sich um eine Aufmerksamkeitsstörung handelt: Jemand lässt sich leicht durch Geräusche ablenken und hat dann Schwierigkeiten, seine Aufmerksamkeit davon abzuwenden. Daher untersuchten Wissenschaftler der University of British Colombia, ob Aufmerksamkeitsprobleme auch bei Misokinesie eine Rolle spielen.
Sie stellten den Probanden Aufmerksamkeitsaufgaben und untersuchten sie, ob Menschen mit Bewegungshass bei diesen Aufgaben schlechter abschnitten als andere. Das bestätigte sich jedoch nicht, da keine Unterschiede festgestellt wurden.
Verbindung mit Perfektionismus
Das bedeutet nicht automatisch, dass es sich nicht um ein Aufmerksamkeitsproblem handelt, sagt Vulink. Um das festzustellen, sind umfangreichere Untersuchungen erforderlich, bei denen die Aufmerksamkeit und der Bewegungshass auf verschiedene Weise getestet werden. Außerdem kann das von Person zu Person unterschiedlich sein.
Vulink: „Bei Misophonie hilft eine Therapie, die sich auf die Aufmerksamkeit konzentriert, einigen Menschen, aber nicht allen. Vielleicht gibt es also verschiedene Gruppen von Patienten, bei denen verschiedene Therapieformen wirken. Wir haben in unserer Studie auch festgestellt, dass 26 Prozent der Menschen mit Misophonie unter Perfektionismus leiden. Sie sind also sehr streng mit sich selbst, müssen alles richtig machen.“
Das kann sich einerseits darin äußern, dass sie bei anderen ebenso streng sind (warum macht jemand so laute Essensgeräusche, das gehört sich doch nicht?) und sich andererseits schämen, dass sie so heftig darauf reagieren.
Relativ neue Krankheit
Der Hass auf die Geräusche und Bewegungen anderer Menschen passt auch zu unserer modernen, individualistischen Gesellschaft, denkt Denys. „Viele Erkrankungen wurden schon vor langer Zeit beschrieben, diese aber nicht. Sie scheint sich erst in den letzten 20 bis 30 Jahren entwickelt zu haben. Vielleicht können wir weniger gut andere Menschen um uns herum ertragen?“
Vulink vermutet, dass es diese Krankheit schon viel länger gibt und sie erst jetzt erkannt wird: „Ich habe viele 50- bis 60-jährige Patienten mit Misophonie gesehen, die diese Symptome seit ihrer Kindheit hatten.“
Die Spiegelneuronen machen Überstunden
Inzwischen versuchen andere, Antworten in unserem Gehirn zu finden. Wissenschaftler der Universität Newcastle legten 2021 Menschen mit und ohne Misophonie in einen Gehirnscanner. Diejenigen mit Misophonie zeigten keine stärkere Reaktion in den Hirnregionen, die an der Verarbeitung von Geräuschen beteiligt sind, wohl aber in dem Bereich, der Kauen und Beißen auslöst.
Dieses Hirnareal ist voll mit Spiegelneuronen, schreibt die Misophonie-Forscherin Jennifer J. Brout in einem Artikel auf Psychology Today. Diese Neuronen werden aktiviert, wenn wir sehen, wie andere etwas tun. Wir spiegeln diese Handlung dann sozusagen in unserem Kopf. Dies ist nützlich, wenn wir uns in andere einfühlen wollen, aber bei Menschen mit Misophonie machen die Spiegelneuronen möglicherweise Überstunden.
Überaktivierung
Laut Brout könnte es sich um eine Überaktivierung handeln. Die andere Seite der Geschichte, der starke Bewegungsdrang, ist ebenfalls ein Thema für die Forschung. Im Englischen gibt es dafür ein schönes Wort: fidgetting. Wörtlich übersetzt bedeutet es „herumzappeln“, aber es ist umfassender als das.
Fidgetting umfasst alle möglichen Arten kleiner Bewegungen, meist überaktive Füße und Hände. Man denke an Wippen und Klopfen, aber auch das Zwirbeln von Haarsträhnen. Es gibt verschiedene Theorien über den Grund für diese Art von Gewohnheiten, die von Stress bis hin zu Langeweile reichen oder einfach nur bei der Konzentration helfen sollen.
Spannung abbauen
Zum Beispiel Kinder mit ADHS. Sie haben oft Schwierigkeiten, still zu sitzen. Einigen Studien zufolge hilft ihnen Bewegung, sich zu konzentrieren, Nur bei anderen Gruppen scheint Bewegung tatsächlich ein Zeichen dafür zu sein, dass die Konzentration abnimmt. In einer Studie aus dem Jahr 2013 filmten Wissenschaftler der kanadischen University of Alberta 21 Probanden während einer 40-minütigen Videovorlesung. Alle fünf Minuten bewerteten die Teilnehmer ihr Konzentrationsniveau. Anschließend wurde ein Gedächtnistest durchgeführt. Wenn die Aufmerksamkeit nachließ, nahm der Bewegungsdrang zu, beobachteten die Wissenschaftler auf dem Videomaterial. Diejenigen, die sich am meisten bewegten, schnitten bei dem Test eher mäßig ab. Bewegen wir uns also aus Langeweile? Die Wissenschaftler vermuten jedenfalls, dass dies ein Hinweis darauf sein könnte, dass es Zeit für eine Pause oder eine andere Aufgabe ist.
Vor Nervosität nicht still sitzen können
Bewegungsdrang kann auch ein Ausdruck von Anspannung oder Stress sein. Denys: „Manche kanalisieren innere Spannungen durch Bewegung, das nimmt die Unruhe weg.“ Wahrscheinlich kennt das jeder in gewissem Maße: Wir alle haben schon Zeiten erlebt, in denen jeder Nerv im Körper extrem angespannt ist und wir kaum noch still sitzen konnten. Für manche Menschen kann es sogar in scheinbar weniger extremen Momenten notwendig sein, die Spannung durch Bewegung loszuwerden.
Fidgetspinners und Pop-its
Führt Bewegung zu Konzentration oder Chaos? Das ist von Person zu Person unterschiedlich, aber das allgemeine Bild tendiert zu Letzterem. In einem Experiment der Universität von Kalifornien im Jahr 2019 wirkten sich Fidgetspinners (eine Art Drehscheibe, die man mit den Fingern bewegt), die vor einigen Jahren in Mode waren, negativ auf die Aufmerksamkeit und die Testergebnisse von Universitätsstudenten aus. Auch Grundschüler schneiden mit einem Fidgetspinner in der Hand schlechter ab, wie eine Untersuchung der University of Northern Colorado 2021 ergab.
Inzwischen sind die Diskussionen darüber abgeflaut, und die Fingerspielzeuge wurden durch neue Spielzeuge ersetzt. 2021 wurde zum Beispiel der Pop-it dank der Influencer auf Tiktok zum Trend. Es sieht aus wie eine farbenfrohe, gummierte Version von Luftpolsterfolie, die man so gerne knallen lässt. Das bedeutet harte Zeiten für Menschen mit Misophonie und Misokinesie.
Kritzeln hilft dem Gedächtnis
Zeichnen Sie während eines Telefonats oder Vortrags gedankenlos Seiten voller Blumen oder abstrakter Kunst? Dafür muss man sich nicht schämen, es könnte sogar nützlich sein. Ein Psychologe der Universität von Plymouth ließ 2009 40 Personen eine Telefonnachricht abhören. Die Hälfte durfte „kritzeln“, wie das gedankenlose Zeichnen auch genannt wird. Diese Gruppe erinnerte sich später an 29 Prozent mehr Information als diejenigen, die nicht gezeichnet hatten. Die Forscher glauben, dass das Kritzeln uns vom Tagträumen abhält. Eine Anmerkung: Die Probanden malten Quadrate und Kreise aus. Das ist mental bestimmt weniger geistig anstrengend als ein komplettes Kunstwerk zu erstellen.
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